Als Mutter möchte man seine Kinder vor allem beschützen. Dass mein Schicksal auch ihre Lebensbiographien beeinflusst, ist für mich unerträglich. Trotzdem machte ich nie ein Geheimnis aus meiner Erkrankung. Von Anfang an blieb ich authentisch und gab der Krankheit ihren Namen. Stets habe ich meine Trauer erklärt, damit meine Töchter die Tränen nicht auf sich beziehen. Systemisch betrachtet, möchte ich vermeiden, dass sie meine Ängste tragen müssen, nur weil ich mich diesen nicht stelle. Im Gegenteil, mein Vorbild kann ihnen helfen eigene Angststrategien zu entwickeln. Lange überlegte ich, ob ich auch meinen aussichtslosen Zustand kommunizieren möchte. Langfristig kann ich meine Kinder nicht vor der bitteren Wahrheit bewahren. Bevor sie die Diagnose „unheilbar“ zufällig aufschnappen, sollen sie diese lieber von mir persönlich hören.
Heute brauche ich mehr Ruhe und Zeit für mich. In unserer Wohnung richtete ich mir eine eigene Oase ein. Die Mädchen müssen sich deshalb ein Kinderzimmer teilen. Wie erklärt man das? Gegenüber Lärm, Diskussionen und Streit reagiere ich sehr sensibel, so dass sich die Kinder in Rücksicht üben müssen. Wie begründet man das? Abends bin ich häufig zu erschöpft, um noch eine Geschichte vorzulesen. Wie kann man derartige Enttäuschungen vorbeugen? Hoffnungsträger wie „Mama, wenn du wieder gesund bist, dann …“ führen mir nur die eigene Trostlosigkeit vor Augen. Kein Kind soll mir später vorwerfen: „Wenn ich gewusst hätte, wie schlimm es um dich steht, hätte ich mich anders verhalten.“ Mit der Wahrheit haben wir alle die Chance, das Beste aus unserer Misere zu machen.
Jedes Mal machte ich die Erfahrung, dass ich meine eigenen Kinder unterschätzt habe. Sie kommen nämlich besser mit der Realität klar als viele Erwachsene. Ich erinnere mich noch gut, als ich meiner Kleinen Bilderbücher zum Thema Krebs vorlas. Vorher löschte ich alle Zeilen, in denen es um Tod ging, mit Tipp-Ex. Sie ging ja bereits in die erste Klasse und lernte selber das Lesen. Dabei hatte ich den Scharfsinn meines Kindes aber nicht bedacht. Sie stellte mir trotzdem zahlreiche Fragen zum Thema Tod. Jetzt wäre ich froh gewesen, hätte ich die Zeilen noch stehen gelassen. Nun musste ich eigene Antworten finden. Meine Kleine wurde sogar richtig ärgerlich: „Mama, nie erzählst du mir vom Tod! Kauf mir jetzt endlich ein Buch darüber! Ich will alles wissen.“ Da durfte ich mich erst einmal selbst weiterbilden. Was passiert eigentlich nach dem Tod? Das lässt sich nicht schnell aus dem Ärmel schütteln. Kleine Kinder sind dem Sterbethema zugewandter als Erwachsene. Wahrscheinlich, weil sie die Endgültigkeit noch nicht begreifen können. Aber auch meine große Tochter (12 Jahre) wollte genau wissen, wie viele Jahre ich noch leben werde. Als ich weit ausholte: „Das weiß niemand, vielleicht wenige, vielleicht aber auch zwanzig Jahre“, entschied sie ganz realistisch, dass ihr das nicht genug sei. Wie recht sie doch hatte! Um meine Mädchen nicht mit Verlustängsten zu quälen, versprach ich ihnen, dass ich sie rechtzeitig informieren würde, wenn die Ärzte mein Lebensende bereits im Blick hätten.
Unsere Familie sitzt in einem Boot. Dieses Boot kommt nur vorwärts wenn man mit beiden Rudern paddelt. Rudert man nur in eine Richtung, so dreht sich das Boot im Kreis. Die Kommunikation über die Erkrankung ist genauso wichtig wie das Schaffen einer Auszeit, einer krebsfreien Zone. Beruhigend ist, dass alle Phasen vorüber gehen, auch das Interesse am Tod, wenn man daraus kein Phantom macht.