Der Freibrief

Der Freibrief

Erst Knall, dann Fall! Alles habe ich verloren. Es ist ungewiss, ob ich jemals in meinen Beruf zurückkehren werde. Ich bezweifle sogar, ob ich wieder zu mir selbst finden werde. Einst war ich dynamisch, autark, voller Ideen und Zukunftsträume. Jetzt raubt mir die Diagnose Stück für Stück meine Lebensenergie. So kraftlos, abhängig und zukunftslos erkenne ich mich nicht mehr. Der einzige Trost ist, dass es nicht schlimmer werden kann. Ganz unten bin ich angelangt und warte nun darauf, dass die Lebensspirale wieder nach oben steigt. Die Stimmen in meinem „Kopfkino“ raten mir: Nütze das aus! Du kannst aus der Rolle fallen und musst dich nicht einmal entschuldigen. Bei so einem miesen Schicksal ist alles erlaubt. Mein „Herzkino“ ist am Ende des Films angelangt und prahlt mit allem, was es zu bieten hat: Weltschmerz, Herzschmerz und Selbstmitleid. In den Tränenfluten wird es mir plötzlich bewusst. Jetzt oder nie! Ich hab den Freibrief erhalten, alles zu tun, was ich möchte. Keiner schaut mich in meiner Notlage schief an. Im Gegenteil, mein Umfeld dankt es mir, wenn ich mich sinnvoll beschäftige, anstatt im Tränenmeer zu ertrinken. Für jede noch so verrückte Idee bekomme ich sogar Zuspruch. Das ist der beste Moment, das zu leben, was man sich bisher nicht traute. Der Kritiker in mir – der sich für gewöhnlich so anhört: Das ist unmöglich. Das ergibt keinen Sinn. Das kannst du doch gar nicht. – hält sich erschöpft zurück und genießt seine Pause. Denn im Grunde hat er das Zweifeln endgültig satt. Seit meiner Erkrankung ergibt nämlich alles keinen Sinn mehr.

Auf diese Weise kam ich zu meinem Spaßberuf, der Schriftstellerei. In unserer Gesellschaft ist man ergebnisorientiert: Wir definieren den eigenen Wert über Geld, Macht, Luxus, Lob, Anerkennung… Es muss sich lohnen! Durch die Vernunft aber existieren wir nur, erst die Leidenschaften machen uns lebendig. Endlich bin ich frei von den Fesseln unserer Welt. Ich schreibe nur für mich, weil es mir gut tut. Das Schreiben schenkt mir Leichtigkeit. Es räumt in meiner Seele auf und schafft Platz zum Lachen und Träumen. So sehe ich klarer und gehe meinen Weg selbstbewusster. Als treuer Seelentröster bringt es mich sogar im Krankenhaus auf gute Gedanken. Somit habe ich eine Geheimwaffe gefunden, die immer funktioniert. Die einzigen Voraussetzungen sind Zeit und Muße. Für viele ist das Luxus, sie strampeln sich in ihrem Alltag ab, um ein bisschen davon für sich zu reservieren. Heute steht kein Berg vor mir, den ich noch abarbeiten muss. Im Gegenteil, ich sehe wunderschöne Täler, in denen ich wandeln kann als die Person, die mir gerade gefällt. Jeden Tag kommt ein neuer Himmel, eine weitere Chance zum Anderssein. Dieser Freibrief ist ein Stück Freiheit, die ich mir nie wieder nehmen lasse.

Liebe Leserin, lieber Leser, du bist mir wichtig!
Was ist dein Freibrief?
Welche Aktivitäten schenken dir Lebensmut?
Was ist dein Ventil, um mit deiner Trauer klar zu kommen?

Schreibe einen Kommentar