Wie lebt man mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung?
Kann man überhaupt noch leben, lieben, glücklich sein?
Ja, es geht. Auch wenn es eine tägliche Herausforderung bleibt. Plötzlich stehen auch andere Qualitäten im Vordergrund: verzichten, loslassen, trauern. Werte, die in unserer Gesellschaft verunsichern und Angst machen. Ich denke, es gibt viele verschiedene Wege mit dem eigenen Schicksal umzugehen. Mein Weg führt zum schriftstellerischen Ausdruck.
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Das ist meine Art, mich weiterhin an kreativen Projekten zu begeistern und dabei die Lebenslust zu spüren. Für mich heißt das Zauberwort Begeisterung. Es muss etwas im Leben geben, was einen begeistert. Meine Not, plötzlich sterbenskrank zu sein, trieb mich zu einer neuen Leidenschaft. Bisherige Ausdrucksformen wurden mir ganz oder teilweise genommen: Zukunftsträume, berufliche Perspektiven, Freizeitaktivitäten … Doch mein Wesenskern drängte vorwärts. Das ist eine der wunderbaren Botschaften, die ich gelernt habe: Du bist nicht deine Krankheit, sondern der gleiche wertvolle Mensch, der du auch vor der Erkrankung warst. Deine Prioritäten haben sich nur verändert.
Zum Wesentlichen
Wenn das Lebensende plötzlich vor einem steht, dann wird manches einfacher. Man ärgert sich nicht mehr über Banalitäten, sondern steckt seine Energie in das, was einem wirklich wichtig ist. Wahrhaftig, sonst würde man es auch nicht schaffen. Denn leider kommt ja auch ein großer Berg an neuen Themen dazu, die einen zusätzlich ständig beschäftigen: die Erkrankung, Therapien, Veränderungen, Ängste … Dafür muss man erst mal im Kopf und Herzen Platz schaffen. Bildlich kann man es sich so vorstellen: Man
bekommt eine Röntgenbrille geschenkt. Plötzlich sieht man alles ganz klar, was man braucht, was einem gut tut und was nicht.
Leider kann man diese Brille nicht mehr absetzen. Und es ist sehr anstrengend, sich immer mit dem Wesentlichen beschäftigen zu müssen. Außerdem steht man mit dieser „Klarsicht“ häufig alleine da. Die Menschen um einem herum lieben es, Kleinigkeiten zu thematisieren. Oft fehlt ihnen deshalb die Kraft für den Wandel der großen Dinge. Heute kann ich es nur schlecht aushalten, dass sich mir nahe stehenden Menschen nicht verändern wollen, sondern weiterhin ihre Vorliebe für Kleinigkeiten pflegen.
Zum Stärken
Gerade weil das Beschäftigen mit dem Wesentlichen so kräftezehrend ist, bleibt die Frage, wie ich es schaffe, in Kraft zu bleiben? Vielleicht ist das sogar die wesentlichste Frage überhaupt. Erst einmal ist es faszinierend, wie stark Mütter sind. Das habe ich selber unterschätzt. Jeder braucht nur an die Lebensphase zurückdenken, als seine Kinder noch schreiende Unschuldsengel waren.
Als „Versorgungsmaschine“ hat man seinen Goldschatz monatelang angelächelt, gestreichelt, besungen und getragen, ohne auch nachts nur ein Auge zu zutun. Dieses Überlebensprogramm läuft dank der Mutter Natur. Und ich glaube, so ein ähnliches Überlebensprogramm läuft auch in mir, sicher bis meine Kinder volljährig sind. Aber auch die beste Mutter weiß, dass sie sich immer zuerst um sich selbst kümmern muss, damit der Nachwuchs überlebt.
Eine Fürsorge für sich selbst zu entwickeln, für sein eigenes innere Kind zu sorgen, musste ich ein Stück weit lernen. Dazu durfte ich mich samt meinen Vorlieben neu kennen lernen. Heute weiß ich noch besser, was mich entspannen lässt. Seitdem treffe ich mein „Ich“ immer wieder und aktualisiere meine Kraftquellen.
Zum Lieben
Müsste ich meine subjektive Essenz des Lebens benennen, wäre es die Herzenswärme. Sie ist ein kostbares Erbgut meiner mütterlichen Linie und hat für mich eine überdimensionale Bedeutung bekommen. Seit meiner Diagnose musste ich zu häufig erleben, wie oft diese im Zwischenmenschlichen fehlt. Deshalb komme ich heute mit kühlen Menschen immer weniger klar und schmälere auch meine Verbindungen zu ihnen. Meine Töchter begreife ich immer mehr mit dem Herzen, ihre Bedürfnisse werden häufiger zu meinen. Seitdem haben wir Mädels wirklich eine wunderbare Zeit zusammen. Gemeinsame Gespräche, liebevolle Gesten und Augenblicke der Rührung häufen sich. Meiner Meinung nach möchten wir Menschen alle gesehen und verstanden werden, das versöhnt häufig Streit und Trauer. Und mit dem Herzen kann man am besten sehen. Das Wunderbare an Liebe ist, man kann sie nicht überdosieren.Sie ist quasi ohne Nebenwirkungen. Das ist ja bei den meisten Erziehungsmethoden eher weniger der Fall. Auch meine Kinder entwickeln ihre empathische Seite und darauf bin ich unglaublich stolz. Schon als Lehrerin habe ich immer deutlicher gespürt, dass es mehr Empathie in der Welt braucht: Empathie zu vermitteln, Empathie zu heilen und Empathie zu wachsen.
Zum Erlauben
Ich weiß, dass ich zu „lehrerinnenhaft“ mit mir selbst bin. An meine eigene Person stelle ich hohe Ansprüche, auch dann, wenn es die Gesellschaft nicht tut. Hier hat meine Persönlichkeit einen großen Nachholbedarf. Wenn ich hingefallen bin, erwarte ich von mir, sofort wieder aufzustehen.
Da gibt es doch einen schönen Spruch: Krone zurecht rücken und weiter geht’s! Auf allen „Soll-Ebenen“ Lehrerin, Mutter, Ehefrau … konnte ich damals auf einmal nicht mehr weiter – vor Kraftlosigkeit. Das kannte ich früher gar nicht. Immer war ich ein Energiebündel, brachte scheinbar mühelos Kinder und Studium unter einen Hut.
Seit meiner Diagnose bekomme ich nun öfters eine körperliche Grenze aufgezeigt. Stopp, bis hierhin und nicht weiter! Die einzige Chance bleibt dann geduldig sein, abwarten, schonen. Denn ohne den Körper will auch die Psyche nicht mehr. Und gemeinsam ist man doch am stärksten!
Zum Lebensmut
Das Leben ist zu kurz, um zu warten und Träume zu verschieben. Eigentlich habe ich immer in der Zukunft gelebt, in der Vorstellung, über die Planung der nächsten ein bis zwei Jahre. Das ist nun anders. Ich entwerfe nur noch kurz- bis mittelfristige Ziele. Auch wenn ich eigentlich noch mehr organisieren muss als früher. Das Netz der Unterstützer (Ärzte, Therapien, Babysitter, Haushaltshilfen …) wird immer dichter und anspruchsvoller. Aber das Leben ist sicher zu schön, um sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Man muss
aufhören, es allen recht machen zu wollen und ständig Kompromisse einzugehen. Kompromisse machen sowieso beide Parteien unglücklich, so erhalten beide Partner nicht das, was sie eigentlich wünschen. Abwechselnd seinen Willen durchzusetzen, schafft verteilte Freude und Selbstbewusstsein. Wenn auch meine Kinder mit ihren Bedürfnissen regelmäßig zum Zug kommen, kann auch ich leichter meine Wünsche einfordern. Mein Partner lebt beruflich seinen größten Traum. Er machte sich beim Auftreten
meiner Erkrankung selbstständig. Viele Verwandte finden diese Entscheidung befremdlich. Hätte er nicht eher einen sicheren Beruf wählen sollen, um mich finanziell und zeitlich mehr unterstützen zu können? Aber gerade so ein schweres Schicksal braucht auf der anderen Seite Glücksmomente, die Hoffnung schenken. Was kann mehr Hoffnung schenken als das Realisieren seiner Träume? In diesem Moment schreibt man seine Biographie selbst. Man lebt autark und steht eben nicht dem Leid hilflos gegenüber.
Die Ohnmacht ist nämlich ein Gefühl, das wir leider auch hinnehmen müssen, aber eben nur phasenweise. Sein Leben nur nach dem Schicksal zu richten, halte ich für vollkommen falsch. Im Gegenteil, jetzt erst recht mutig werden und sein Leben leben! So setzte auch ich mir immer neue Ziele: Ein Buch veröffentlichen, eine Lesung halten, für eine Zeitung schreiben, in Fernsehen erscheinen … Diese Highlights schenken mir Lebensmut und zeigen mir, dass es weiter geht.
Zum Glauben
Jeder kennt die Zuwendung zu Gott, wenn eine Krise eintritt. Dann beginnen sogar die Atheisten zu beten. Spürt man keinen Boden unter den Füßen mehr, so bleibt nur noch eine fühlbare Macht: Gott. Seit meinem Eintritt in die Christengemeinschaft, meiner Taufe, leuchtet auch ein kleines Stück Gott in mir. Gott hat mir eine liebende Kraft geschenkt, ein Vertrauen an die eigene innewohnende, heilende Kraft,
die mir zeigt, du schaffst das Unmögliche! Natürlich ist das göttliche Leuchten mal schwächer oder stärker, aber es verlässt mich nicht. In Momenten der Verzweiflung muss man sich geborgen fühlen können, um die dunklen Tage zu überstehen. Wir brauchen im Leben etwas Magisches, Unerklärliches, Übermächtiges. Wir brauchen etwas, was uns über uns selbst hinaus wachsen lässt. Und es tut gut zu wissen: Das Leben ist nicht bedeutungslos. Jeder Mensch strebt doch nach einer Bedeutung. Wir alle
lieben es, für jemanden etwas zu bedeuten. Ohne Sinn könnte auch ich nicht sein. Natürlich hadere ich ab und an. Nicht immer kann ich es „sinnvoll“ empfinden zu leiden. Aber ich gehöre immer schon zu den „Zweiflern“ und „Sinnsuchenden“. Was ich daran am meisten schätze ist der Wandel. Durch das Suchen entsteht Dynamik. Häufig habe ich meinen Kurs, sei es der Beruf oder seien es die Interessen, geändert. Und so wird es auch bleiben. Lebensenergie kann nicht vergehen, sie kann sich nur verändern.